Linda Williams
Pornografische Bilder und die „körperliche Dichte des Sehens“
übersetzt von Johanna Schaffer und Jo Schmeiser (gender et alia)
in: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur.
Berlin: Edition ID 1997, S. 65-97 [Auszug]

Dieser Essay untersucht ein Phänomen, das bislang eher diffamiert denn analysiert wurde: Die Entstehung einer Vielzahl unterschiedlichster erotischer und pornografischer Bilder im 19. und 20. Jahrhundert — Standaufnahmen und bewegliche Bilder, die im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit als Massenware erzeugt wurden. Die meisten TheoretikerInnen sind sich darin einig, daß die „Medienexplosion“ im 19. Jahrhundert, d.h. die Ausbreitung drucktechnisch vervielfältigter Bilder (erst Lithografien, später Fotografien) in Frankreich und bald darauf in ganz Europa und Amerika, mit einem gewaltigen Produktionsanstieg „schmieriger Pornobilder“ einherging, der bis heute unvermindert anhält. Diese Tradition massenproduzierter pornografischer Bilder wird gemeinhin, sofern sich überhaupt jemand mit ihr befaßt, als die Freudsche dunkle Kehrseite einer viktorianischen Prüderie beschrieben und/oder als das Resultat eines ungemein drastischen Realismus gedeutet, den die neuen Technologien der Bildproduktion ermöglicht hätten.

FilmtheoretikerInnen aller Couleurs perpetuieren dieses Denken: Es reicht von André Bazins Vorbehalten gegenüber der „Obszönität“ gewisser extremer „Wahrheiten“ (jener Dokumentarbilder in den Wochenschauen, die das Vollziehen von Todesstrafen zeigten), über Stanley Cavells These, daß die „ontologische Beschaffenheit des Kinos dieses als inhärent pornografisch entlarvt“ (45), bis hin zu Fredric Jamesons Bemerkung, daß „pornografische Filme … nur die Potenzierung von Filmen generell darstellen. Denn Filme fordern uns auf, die Welt anzustarren, als ob sie ein nackter Körper sei“ (1). Bei allen findet sich derselbe grundlegende, wenn auch immer unterschiedlich bewertete und ausgearbeitete Gedanke: daß mit der Erfindung der massenproduzierten fotografischen und später kinematografischen Darstellungsformen scheinbar automatisch ein neuer Obszönitätsgrad erreicht worden sei.

Was die Fotografie betrifft, geben spätestens seit Baudelaire Generationen von FotografietheoretikerInnen einem vormals beispiellosen fotografischen Realismus die „Schuld“ an der Enstehung einer neuen „Obszönität“. Abigail Solomon-Godeau, die sich in einem brillianten, 1987 publizierten Artikel mit der erotischen und pornografischen Fotografie des 19. Jahrhunderts befaßt, führt diese Argumentationslinie fort und verleiht ihr unter Einbeziehung zahlreicher Konzepte aus der feministischen Filmtheorie eine feministische Wendung. Sie verweist auf die enorme Anzahl erotischer und/oder pornografischer Bilder, die mit der Erfindung der Fotografie in Frankreich entstanden, und argumentiert, daß Bilder wie z.B. diese stereoskopische Fotografie aus dem Jahr 1855 (Abb. 1) keinesfalls bereits existierende, aus der Malerei oder der Lithografie übernommene erotische Darstellungsformen weiterführen. Vielmehr begründen sie ein völlig neues Genre, das ohne die Erfindung der Fotografie und den neuen Stellenwert des fotografischen Bildes als „Spur des Realen“ (229) nicht hätte entstehen können.

Innerhalb des Solomon-Godeauschen Erklärungsrahmens bildet diese noch nie dagewesene „Spur des Realen“ die Grundlage einer neuen Obszönität, die untrennbar mit dem sinnlichen Reiz eines exzessiven Realismus verbunden ist. Dieser neue „Zugriff auf das Reale“, den das Foto bietet, ist ihrer Ansicht nach von besonderer Wichtigkeit; und möglich wird er im Foto, da dieses im Gegensatz zur idealisierten Aktdarstellung in einem indexikalischen, kausalen Verhältnis zu einem nackten Körper steht, der sich tatsächlich einmal vor der Kamera befand und mit Schamhaar und Vagina ausgestattet war (223). Dieser augenscheinliche Realismus-Exzess scheint für den Bruch zwischen der Tradition der erotischen und pornografischen Fotografie und dem Bereich der Kunst verantwortlich zu sein. Seine prominenteste Verdammung findet sich in einer Textstelle von Baudelaire, die Solomon-Godeau zitiert:

„Kurze Zeit darauf beugten sich Tausende begieriger Augen über die Öffnungen der Stereoskope, als seien sie die Dachfenster zur Unendlichkeit. Das Gefallen am Obszönen, das die Natur des Menschen so lebhaft erfüllt wie das Gefallen am eigenen Ich, läßt sich eine so gute Gelegenheit zur Befriedigung nicht entgehen.“

Solomon-Godeau ist der Ansicht, daß das Gefallen am Obszönen, das Baudelaire ebenso lebhaft beschreibt wie verhöhnt, wahrscheinlich im wörtlichen wie auch im metaphorischen Sinne gemeint war. Sie versteht dieses Gefallen am Obszönen als extremes Beispiel dafür, wie die indexikalische Beschaffenheit des fotografischen Zeichens die Erotik eines „männlichen Blicks“ an den intimen Stellen des weiblichen Körpers steigert. Laut dieser Argumentation, die auch der psychoanalytischen feministischen Filmtheorie vertraut ist, ist das, was durch die indexikalische, „real begründete“ Beschaffenheit des fotografischen Bildes festgehalten wird, die ontologisch reale Präsenz der „Darbietung des Fleisches“ durch die Frau (225).

Die theoretische Tradition, auf die sich Solomon-Godeau in ihrer Untersuchung erotisch-pornografischer Fotos beruft, stützt sich auf die These, daß die visuelle Lust [pleasure]*, die das Betrachten solcher Fotos bietet, männlich ist und die dargestellten Frauenkörper objektiviert und fetischisiert. Zwar ist Solomon-Godeau äußerst bedacht, die simplifizierende anti-pornografische Behauptung, der Objektstatus der Frauen sei durch pornografische Bilder „verursacht“, zu vermeiden. Und mit Recht fordert sie, daß die verdrängte Geschichte dieser Bilder in Betracht gezogen wird. Dennoch beruht das traditionelle Konzept des „männlichen Blicks“ und dessen „visueller Lust“, auf das sie sich bezieht, auf der Annahme, es gäbe ein aktives männliches Subjekt des Blicks, das seine Macht ausübt, wenn es mithilfe der fotografischen Technologie das weibliche Objekt betrachtet (220). […]

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