Joan Wallach Scott
Verstörende Spektakel des Paradoxen
übersetzt von Ruth Noack und Johanna Schaffer (gender et alia)
in: springer. Hefte für Gegenwartskunst, Bd. 1, Heft 4, Sept. 1995, S. 53-55 [Auszug]

Wie entsteht feministische Handlungsfähigkeit? Wo liegen die Ursachen für die erstaunlichen Beispiele an Kühnheit und Mut, die Frauen veranlaßten, sich den Existenzbedingungen zu widersetzen, die die Gesellschaften ihnen auferlegten? Was ermöglicht es Frauen, die kraft Gesetzes von der Teilnahme am politischen Leben ausgeschlossen sind, in die Sphäre der Öffentlichkeit zu treten?

Dies sind Fragen, die nach historischer Spezifizität verlangen. Aber selbst HistorikerInnen neigen dazu, durch statische Beschreibungen zu generalisieren: Entweder schlagen essentialistische Vorstellungen eines inhärent weiblichen Moralempfindens und Handlungsvermögens durch, oder es werden politische Theorien bemüht, die Widerstand zur zwangsläufigen Folge von Unterdrückung erklären. Foucault bietet eine Alternative zu diesen ahistorischen Auffassungen. Er schlägt vor, Handlungsfähigkeit als diskursiv entstandenes Machtverhältnis zu verstehen. Im ersten Band der „Geschichte der Sexualität“ weist er die Idee eines Gegensatzes zwischen „dem zugelassenen und dem ausgeschlossenen oder dem herrschenden und dem beherrschten Diskurs“ zurück. Er meint: „Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und -effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie.“ Dieser Diskursbegriff bietet einen geeigneten Rahmen, um die historisch spezifischen Ausprägungen feministischer Handlungsfähigkeit zu untersuchen. Ich werde mich hier auf die Geschichte des Feminismus in Frankreich beziehen, aber ich denke, daß meine Analyse auch auf andere Fälle übertragbar ist.

Selbstverständlich haben sich Bedingungen und Begriffe des Feminismus in unterschiedlichen Ländern und historischen Zusammenhängen geändert. Sowohl das Subjekt des Feminismus wie auch das „Frauen“-Bild, das Feministinnen anzubieten hatten, wandelte sich je nach epistemologischem und politischem Kontext, in dem Feministinnen tätig waren. In Frankreich beispielsweise stellte 1848 die utopische Sozialistin Jeanne Deroin die Frau als idealisierte Mutter dar, die ihre Versinnbildlichung in der Jungfrau Maria erfährt. Vierzig Jahre später repräsentierte die republikanische Suffragette Hubertine Auclert Frauen als weltliche, naturwissenschaftlich gesinnte Rationalistinnen. Anfang des 20. Jahrunderts hingegen bestürmte die Psychiaterin Madeleine Pelletier Feministinnen mit der Aufforderung, sich selbst zu „virilisieren“, um eine gesellschaftlich auferlegte Weiblichkeit abzulegen, durch die sie erniedrigt und unterdrückt würden. Das Subjekt des Feminismus blieb demnach nicht konstant. Die Bedingungen der Repräsentation dieses Subjekts verschoben sich, und in den Verschiebungen finden wir nicht nur Frauengeschichte, sondern auch die Geschichten der Philosophie und der Politik.

Eine Eigenschaft jedoch bleibt für den Feminismus charakteristisch — daß er in einem Widerspruch und als Widerspruch diskursiv konstituiert ist. Feminismus entstand als Folge und als Infragestellung eines Rechtsdiskurses, der sich universell nannte und gleichzeitig Frauen aufgrund ihrer körperlichen (geschlechtlichen) Unterschiede zu Männern ausschloß. Der Feminismus stellte diesen Ausschluß von Frauen doppelt in Frage. Zum einen verwies er auf die universelle Geltung des rechtsfähigen Individuums, zum anderen aber brachte er in den Paradoxien der eigenen Positionen die Widersprüche des Individualitätsdiskurses zum Ausdruck. Die Fragen um „Gleichheit oder Differenz“ und um die politische Bedeutung „sexueller Differenz“ — die heute nach wie vor die Debatten feministischer Theoretikerinnen und Aktivistinnen bestimmen — sind letztlich nicht auflösbar. Sie sind vielmehr Symptome einer der Widersprüchlichkeiten des liberalen Individualismus.

Dieser Widerspruch wohnt dem Konzept des Individuums inne: das Individuum wurde sowohl als abstrakter, von allen Beziehungen und gesellschaftlichen Zusammenhängen abgelöster Mensch gedacht wie auch als einzigartiges Wesen, dessen Besonderheit in seiner Differenz zu anderen begründet liegt. Das abstrakte Individuum (das als Grundlage eines alle einschließenden Systems den Hierarchien und Privilegien monarchistischer und aristokratischer Regime entgegengesetzt wurde) ermöglichte das Postulat grundsätzlicher menschlicher Gleichheit. Waren Menschen grundsätzlich gleich, konnten sie als ein einziges Indivuduum vorgestellt werden. Das abstrakte Indivuduum lieferte dafür den Prototyp; es war der eine, der zum Sinnbild für alle wird. Aber gerade weil es „der eine als Sinnbild für alle“ war, konnten mit ihm all jene ausgeschlossen werden, die als nicht im Besitz der erforderlichen Attribute galten. Im Konzept des abstrakten Individuums war kein Raum für Differenz vorgesehen, und dennoch errichtete die Tatsache, daß es im Singular repräsentiert wurde, die Differenz als Grundlage für Ausschlüsse.

Im Gegensatz zum abstrakten Individuum war das als einzigartiges Wesen konzipierte Individuum ausdrücklich von Differenzverhältnissen abhängig. Nur die Abgrenzung von anderen gewährleistete die Existenz des Selbst und die Individualität seiner Qualitäten und Eigenschaften. Die „Encylopédie“ verwies in ihrer Definition des „Individuums“ auf die „Summe der Unterschiede“, die „zusammengenommen … nicht auf irgendjemand anderen zutreffen können“. Die gemeinsame Eigenschaft der Menschheit war demzufolge ihre Individualität, die Tatsache also, daß jede Person sich von jeder anderen unterscheidet und daß die Summe aller Personen als ein Differenzverhältnis bestimmt ist.

Im politischen Diskurs der französischen Revolution wurde die Spannung zwischen diesen zwei unterschiedlichen Konzepten des Indivuduums durch die Gleichsetzung der beiden Individuen – dem abstrakten und dem einzigartigen – mit Männlichkeit (und eine Zeitlang mit weißer Männlichkeit) aufgelöst. Das abstrakte Individuum wurde als Mann dargestellt. Es war ihr Männlichsein, das alle Männer rechtlich gleichstellte und schließlich die Anerkennung aller Männer als Bürger gewährleistete. Ebenso war das als einzigartig definierte Individuum männlich, und die Differenz zu einer Frau etablierte die Grenzen seines Selbst. Die Bandbreite möglicher gesellschaftlicher Unterschiede zwischen Individuen wurde somit auf eine Frage sexueller Differenz reduziert. In einer fest verankerten und hierarchischen Opposition wurde Männlichkeit mit Individualität gleichgesetzt und Weiblichkeit mit Andersheit (Männlichkeit galt jedoch nicht als das Andere des Weiblichen). Das politische Individuum wurde somit als universell und zugleich als männlich verstanden. Die Frau hingegen war aus zweierlei Gründen kein Individuum: sie entsprach nicht dem menschlichen Prototyp, und sie war die Andere, die die Individualität des (männlichen) Individuums bestätigte.

Eine Vignette aus dem offiziellen Protokoll der 1794 abgehaltenen französischen Nationalversammlung illustriert, wie zum Zwecke der Definition der Individualität, an die die Verleihung des politischen Bürgerrecht gekoppelt war, Differenz mit sexueller Differenz gleichgesetzt wurde. 1794 war das Jahr, in dem die Revolutionäre (die die Briten in der Karibik besiegen wollten) die Sklaverei abschafften und ehemaligen Sklaven die Bürgerrechte verliehen. (Freien Männern of Color war bereits zwei Jahre zuvor das Wahl- und das Bürgerrecht zugestanden worden.) Während der Zeremonie im Sitzungsraum der Versammlung umarmten sich, wie vorgesehen, der Präsident und zwei schwarze Abgeordnete. Da meldete der Abgeordnete Pierre-Joseph Cambon, daß eine schwarze Frau, „von heftiger Freude erfaßt, als sie uns all ihren Brüdern die Freiheit geben sah“, ohnmächtig niedergesunken sei. Er schlug vor, sie in Anerkennung ihrer „bürgerlichen Tugendhaftigkeit“ nach vorne zu holen, damit sie sich für Rest der Veranstaltung neben den Präsidenten setze. […]

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