Jacqueline Rose
Über die Unfähigkeit zu schlafen*
übersetzt von Katja Wiederspahn und Dagmar Fink (gender et alia)
in: Freud-Museum Wien (Hg.), Newsletter 2/2000, S. 8-30 [Auszug]

„Es ist unentbehrlich anzunehmen, daß es einen Schlafzustand des Seelenlebens gibt.“ (Freud, Die Traumdeutung, S. 561)

„Wir [sind] ja genötigt, ins Dunkle hinaus zu bauen.“ (ebd., S. 524)

„Wird ein Mensch, der jeden Abend schwer in sein Bett sinkt und bis zu dem Augenblick des Erwachens und Aufstehens gleichsam nicht mehr lebt, jemals daran denken, wenn schon keine großen Entdeckungen so doch wenigstens kleine Beobachtungen über den Schlaf anzustellen?“ (Proust, Sodom und Gomorra, S. 2110)

Über den Schlaf nachzudenken, ist nicht einfach. Vielleicht weil wir annehmen, dass wir unser denkendes Selbst loslassen, wenn wir schlafen. „Die Traumarbeit“, so Freuds berühmte Bemerkung am Ende des 6. Kapitels der ‚Traumdeutung‘, „denkt nicht“. Obwohl es gerade die Absicht des Buches war, der Psyche der Träumenden ihre Würde zurückzugeben („die Würde eines psychischen Vorgangs“, S. 100), und obwohl Freud darauf beharrte, dass Traumgedanken „völlig korrekt“ und „mit allem psychischen Aufwand, dessen wir fähig sind, gebildet“ sind, teilte er den Glauben seiner Vorgänger, dass sich etwas am Traumdenken radikal vom Denken im Wachzustand unterscheidet: „Sie [die Traumarbeit] ist nicht etwa nachlässiger, inkorrekter, vergeßlicher, unvollständiger als das wache Denken; sie ist etwas davon qualitativ völlig Verschiedenes und darum zunächst nicht mit ihm vergleichbar. Sie denkt, rechnet, urteilt überhaupt nicht.“ (S. 486) Dieser Unterschied ist in entscheidendem Ausmaß dem Schlaf zuzuschreiben. „Der Traum“, fügt Freud 1925 in einer Fußnote an, „ist im Grunde nichts anderes als eine besondere Form unseres Denkens, die durch die Bedingungen des Schlafzustandes ermöglicht wird.“ (ebd.)

Obwohl Freud alle für die Traumarbeit charakteristischen Merkmale auch in der Symptombildung sowie in Witzen und Fehlleistungen erkennt, entkommt der Traum – durch den Schlaf – diesen verhüllenden Formen zumindest teilweise. Er durchbricht den Bogen, welchen Freud – in einer Geste, die als Gründungsakt der Psychoanalyse gesehen werden kann – von der Neurose zum Alltäglichen schlägt (zu „einer ungefähr normalen Person“, wie er sich bekanntermaßen in der Präambel des Traummusters selbst beschreibt). Der Schlaf verändert alles. Er ist ein Sonderfall oder – anders gesagt – der Schlafzustand macht den Traum zu einem Sonderfall: er ist „eine Seelenstörung während des Schlafes“ (Abriß der Psychoanalyse, S. 126), eine „halluzinatorische Wunschpsychose“, um eine deutlichere, aussagekräftigere Formulierung aus den ‚Metapsychologischen Ergänzungen zur Traumlehre‘ zu verwenden (S. 420). Im Schlaf nehmen unsere unbewußten Gedanken halluzinatorische Formen an. Der Schlaf rückt die Träume daher näher an die Psychose als an die Neurose, näher an den Wahnsinn, mit dem das 1. Kapitel der ‚Traumdeutung‘ endet. Für Kant, so stellt Freud fest, ist der Wahnsinnige jemand, der im Wachzustand träumt („Der Verrückte ist ein Träumer im Wachen.“), und für Schopenhauer ist der „Traum ein kurzer Wahnsinn und der Wahnsinn ein langer Traum“ (S. 111).

Doch was bedeutete der Schlaf für Freud? Vor welche Art von Problemen stellte er ihn, wohin führte er? „Ich hatte wenig Anlaß“, schreibt Freud auf den ersten Seiten der ‚Traumdeutung‘, „mich mit dem Problem des Schlafs zu befassen, denn dies ist ein wesentlich physiologisches Problem“. „Es bleibt also“, fährt er fort, „auch die Literatur des Schlafs hier außer Betracht“ (S. 33). (Im gebieterischen Überblick des ersten Kapitels ist dies die einzige Literatur, der er das Kompliment macht, sie nicht zu erwähnen). Angesichts der Unverfrorenheit dieser Auslassung, ist es nicht verwunderlich, dass der Schlaf wiederkehrt und im letzten Kapitel der Arbeit mehr oder weniger im Zentrum des Interesses steht. „Ich bin“, behauptet Freud, „ein ausgezeichneter Schläfer“ (S. 236). Im Verlauf der Arbeit scheint es jedoch, als ob der Schlaf – entgegen der üblichen Ordnung der Dinge – das ist, was ihn nicht ruhen lässt. „Der Traum“, schreibt er im 1. Kapitel, „erscheint somit als Reaktion auf alles, was in der schlafenden Psyche gleichzeitig als aktuell vorhanden ist“ (S. 235). Die Psyche, so ließe sich sagen, schläft nie. Für den Traumdeuter gibt es keinen Schlaf zu schlafen. Als ob er von seiner eigenen Arbeit erschöpft wäre, von dem, was er selbst der Psyche an Bedeutung abverlangt hat, beteuert er schließlich im letzten Kapitel: „[…] es ist unentbehrlich anzunehmen, daß es einen Schlafzustand des Seelenlebens gibt“ (das ist weniger eine Aussage als vielmehr ein Plädoyer) (S. 561). Weil der Schlaf für Freud ein so eigenartiges und provokatives, um nicht zu sagen aufwühlendes Thema ist, kann der Schlaf – so möchte ich hier zu Bedenken geben – über viel mehr als nur den Traum Auskunft geben.

Von allen Kapiteln der ‚Traumdeutung‘ wurde dem siebten – welches das psychologischste und deshalb auf den ersten Blick am wenigsten psychoanalytische von allen ist – am wenigsten Aufmerksamkeit geschenkt. Ernest Jones beschreibt es als das „Schwierigste und Abstrakteste, was Freud geschrieben hat“, als etwas, das für Freud auf halbem Weg zwischen Blockade und Laune angesiedelt war. Freud wird aufgehalten, „weil er plötzlich den Drang fühlt, die Abhandlung über allgemeine Psychologie zu skizzieren“ (Hervorhebung J.R.).“Das Schlußkapitel bereitete ihm offensichtlich viel Kopfzerbrechen.“ (Jones, Bd. 1, S. 414). Im Juni 1899 schreibt Freud an Fließ: „Der Abschnitt dehnt sich und wird weder schön noch fruchtbar“ (27. Juni 1899, S. 391). Freud bezeichnet das Kapitel in diesem Brief als Plage („eine Verpflichtung“), obwohl er es fast genau ein Jahr zuvor Fließ gegenüber als etwas beschrieben hatte, was „wie im Traum“ komponiert sein sollte. (20. Juni 1898, S. 348). Jones zufolge gab Freuds Tochter Mathilde an, dass er „wie ein Schlafwandler“ zu den Mahlzeiten der Familie kam, während er dieses Kapitel verfasste (Jones, Bd. 1, S. 417, Fußn. 26). Im letzten Kapitel der ‚Traumdeutung‘ scheint Freud weit davon entfernt, seine Arbeit beenden zu wollen, es hat vielmehr den Anschein, als käme er aus seinem Traum nicht heraus.

Tatsächlich war das siebte Kapitel eine von zwei Blockaden – oder Lücken –, welche die Fertigstellung des Buches behinderten: „die Lücke in der Psychologie sowie die andere, in der das [herausgenommene] zu Grunde analysierte [Traum-]Beispiel gesteckt hat.“ (23. Oktober 1898, S. 363). Durch diese Assoziation sind die Blockade in der Psychologie und die Auslassung der verborgenen Einzelheiten aus Freuds Leben miteinander verbunden. Die Formulierungen lesen sich, als ob das ganze Kapitel über den Traum von Irmas Injektion – und nicht nur ausgewählte Einzelheiten – als zu aufschlußreich aus dem Text herausgenomen worden seien. Es scheint, als habe hier etwas Intimeres oder Privateres als die Abstraktion ( „das Schwierigste und Abstrakteste, was Freud geschrieben hat“), etwas, das eher einem Traum ähnelt („wie im Traum komponiert“) auf dem Spiel gestanden. Zumindest in Freuds Denken gehen Theorie und Intimität Hand in Hand. Der Briefwechsel legt jedenfalls nahe, dass Freud sich unbehaglich zwischen Traum und Vernunft hin und her bewegte, quasi von der Innen- zur Außenseite seines Themas, während er das siebte Kapitel schrieb. Möglicherweise war also nicht die Abstraktion das Problem dieses Kapitels, sondern das Gegenteil – die Anstrengung, die es Freud kostete, sich von den Vorgängen loszureißen, die er zu beschreiben versuchte (das Hochhieven in die Abstraktion, Abstraktion als eine „Verpflichtung“ und ein unerreichbares Ziel). Statt daß die Psychologie eine Verirrung der Psychoanalyse darstellt, eine Art naturwissenschaftliches Relikt, scheinen die Dinge in diesem Fall umgekehrt zu liegen. Wenn das siebte Kapitel der ‚Traumdeutung‘ schwierig ist, dann weil es uns veranschaulicht, wie es Freud in das Innere eben jenes Bereichs oder Raumes zurückdrängt, den er um der Zukunft seiner Wissenschaft willen zu beherrschen versucht – den Raum, über den der Psychonalytiker, anders als der Schläfer, sprechen kann.

[…]

* Der Text wurde am 6. Mai 2000 im Rahmen der Sigmund-Freud-Vorlesung vorgetragen

Literatur [Auszug]
Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 1900, Studienausgabe, Bd. 2, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag (1972) [Die Traumdeutung; zweite vermehrte Auflage, Leipzig und Wien: Franz Deuticke (1909)]

ders., Abriß der Psychoanalyse, 1940 , G.W., Bd. 17

ders., Metapsychologische Ergänzungen zur Traumlehre, 1916-17 [ 1915-17] , G.W., Bd. 10

ders., Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe, hrsg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Bearbeitung der dt. Fassung von Michael Schröter, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag (1986)

Ernest Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. 1; übers. von Katherine Jones. Bern, Stuttgart: Hans Huber (1960)

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in 10 Bänden, übers. von Eva Rechel-Mertens, 4. Aufl., Frankfurt: Suhrkamp Verlag (1985)

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