Michelle Murphy
„Das Anderswo im Hier“ und die Umweltkrankheit – oder wie du dir selbst in einem sicheren Raum einen Körper baust
übersetzt von Dagmar Fink und Katja Wiederspahn (gender et alia)
in: Architektur Zentrum Wien (Hg.): Sturm der Ruhe. What is Architecture?
Salzburg: Verlag Anton Pustet 2001, S. 274-322 [Auszug]

Die meiste Zeit verbringen wir drinnen. Drinnen bei der Arbeit, zu Hause, im Einkaufszentrum, sogar unterwegs sind wir drinnen – im Auto, im Bus oder im Flugzeug. Das Innen, hervorgerufen durch die gebauten Umwelten des Spätkapitalismus, bildet unseren Lebensraum, das Millieu unserer Verkörperung. Dann, an einem ansonsten ganz normalen Tag, zieht sich plötzlich dein Hals zusammen, wenn du das frisch renovierte Bürogebäude betrittst, in dem du arbeitest. Oder du spürst einen Druck auf deinem Brustkorb, während du am Kopierer stehst. Oder du stellst fest, dass du unendlich müde und benebelt bist, seit sie deine Wohnung ausgeräuchert haben. Eine undurchsichtige Konstellation von Symptomen ergreift deinen Körper und lässt dich nicht los. Deine Ärztin oder dein Arzt kann nichts finden, obwohl dein Körper Amok zu laufen scheint. Die gebaute Umwelt, die dir so vertraut ist und deinen Alltag erfüllt, wird zum Ort deines Leidens. Verwirrend, schmerzhaft und gegen jede Logik scheint dein Körper gegen das Innen zu rebellieren.

Körperliche „Reaktionen“ auf die gebaute Umwelt – die Krankheitsbeschwerden der Umweltkrankheit oder der Multiple Chemical Sensitivity (vielfache Chemikalienüberempfindlichkeit, MCS) (1) – machen die Räume des spätkapitalistischen Lebens unbewohnbar. Diese Reaktionen nehmen viele verschiedene Formen an, die sich bei jeder Person unterschiedlich in einer Vielzahl von subjektiv geschilderten Symptomen ausdrücken. Weil es schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, derartige Reaktionen mit konventionellen biomedizinischen Techniken objektiv zu beschreiben und weil sie darüber hinaus von extrem niedrigen, subtoxischen, scheinbar „sicheren“ Konzentationen gebräuchlicher Chemikalien verursacht werden, ist die Existenz von MCS höchst umstritten. MCS passt weder in die biomedizinischen Raster, die zur Kategorisierung von Körpern zur Verfügung stehen, noch entspricht sie den biomedizinischen Erwartungen darüber, welche Fähigkeiten von einem Körper erwartet werden.

Die konventionelle Biomedizin begegnet dieser neu auftauchenden Krankheit mehr als skeptisch: Die offiziellen Sprachrohre der Biomedizin haben die Diagnose MCS für unzulässig erklärt. Die Biomedizin hat MCS durch die psychosomatische Funktionsstörung des Diagostic and Statistical Manual ersetzt, was dadurch erleichtert wurde, dass die Mehrzahl derer, die angeben, an MCS zu leiden, Frauen sind. Durch diese diagnostische Substitution wird MCS – für gewöhnlich gegen den Willen der PatientInnen – als postmoderne Version der Jahrhunderte alten Fähigkeit von Frauen kategorisiert, ihr Leiden zu psychosomatisieren. In den 1990er Jahren nehmen die Symptome eben statt hysterischer Paralyse die Form chemischer Phobien an. Durch diese Substitution wird MCS von der Liste zulässiger körperlicher Krankheiten gestrichen und wird zu einem vergeschlechtlichten Ausdruck eines psychologischen Leidens. Eine psychosomatische Funktionsstörung statt MCS zu diagnostizieren, ist nicht einfach eine Frage der Bezeichnung, sondern vielmehr ein Akt, der in den Entschädigungssystemen für ArbeiterInnen, den Gerichtssälen, Krankenversicherungsurkunden und anderen sozialen Institutionen seinen Widerhall findet. Menschen, die an MCS leiden, haben Schwierigkeiten, von Krankenversicherungen Deckungszusagen zu erhalten, sind nicht berechtigt, betriebliche Sozialleistungen zu beziehen, können keine Unterkunft am Arbeitsplatz beanspruchen, stellen fest, dass es praktisch unmöglich ist, Firmen rechtlich dafür verantwortlich zu machen, dass sie Chemikalien ausgesetzt waren, und – was vielleicht am schmerzhaftesten ist – sind damit konfrontiert, dass sie bei ihren Bekannten und selbst in ihren Familien als SimulantInnen verdächtigt werden. Die Stigmatisierung von MCS ist so groß, dass jene, die an dieser Krankheit leiden, häufig ihre eigenen Aussagen über ihre körperliche Krankheit in Zweifel ziehen. Die biomedizinische Versicherung, MCS sei irreal, hat sich in unzählige juristische, staatliche und kulturelle Bereiche vervielfältigt, welche MCS zu etwas Verworfenem machen.

Mit „Verwerfung“ meine ich den sozialen, nicht den psychologischen Prozess, der das, was möglich, intelligibel oder materiell existent ist, festlegt, indem ein Bereich des Unmöglichen, des Unsinns und der Immaterialität geschaffen wird. Das Verworfene „bezeichnet hier genau jene ‚nicht lebbaren‘ und ‚unbewohnbaren‘ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ‚Nicht-Lebbaren‘ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen.“ (2)

Verwerfung ist nicht einfach eine Form von sozialem Ausschluss, sie ist vielmehr die Herstellung und Markierung eines Bereichs der Unmöglichkeit. MCS wurde von der Biomedizin als ein Zustand verworfen, der sich außerhalb von „Krankheit“ befindet – d.h. als ein unmöglicher körperlicher Zustand. Körper mit MCS werden nicht nur aus der Normalität in die Anomalie, sondern auch aus dem Reich möglicher körperlicher Anomalien verworfen. Aus diesem Grund bezeichnet einer der lautstärksten Opponenten gegen die MCS-Diagnose MCS als eine „Nicht-Krankheit“, ein Begriff, der sich nicht auf das Vorhandensein von Gesundheit, sondern auf eine immaterielle Form von Leiden bezieht. (3) […]

(1) Der im Deutschen gebräuchliche Fachbegriff „vielfache Chemikalienüberempfindlichkeit“ ist im Vergleich zu dem englischen Terminus „Mulitiple Chemical Sensitivities“ (Emfindlichkeit) insofern problematisch, als er durch die Vorsilbe „über“ eine Pathologisierung der Betroffenen impliziert: Es wird suggeriert, das Problem – und damit tendenziell auch die Verantwortung – läge bei den an MCS erkrankten Personen bzw. ihrer überempfindlichen Disposition. (A.d.Ü.)

(2) Die bittere Kontroverse rund um die Umweltkrankheit wird durch die Vielzahl an verwendeten Namen wie auch durch das Fehlen einer gültigen Definition zusätzlich erschwert. Als brauchbare und maßgebliche Definition kann jedoch die folgende gelten: „Multiple chemical sensitivities (MCS) sind erworbene Funktionsstörungen, für die ständig wiederkehrende Symptome mehrerer organischer Systeme kennzeichnend sind. Sie treten bei Personen auf, die nachweislich vielen, chemisch nicht verwandten Verbindungen in einer Konzentration ausgesetzt waren, die weit unter jenen liegen, die als gesundheitsschädigend festgelegt wurden. Es konnte keine Verbindung zwischen einer einzelnen physiologischen Funktion und den Symptomen nachgewiesen werden.“ Mark Cullen, Hg., Workers with Multiple Chemical Sensitivities, vol. 2.; Occupational Medicine: State of the Art Reviews, Philadelphia: Hanley and Belfus (1987), S. 657.

(3) Auch wenn einzelne ÄrztInnen MCS verständnisvoll gegenüberstehen, wurde die Diagnose und das mit ihr assoziierte Gebiet der klinischen Ökologie von den Vereinigungen der MedizinerInnen in einer Flut an Positionspapieren auf das Schärfste kritisiert. Vgl. American Academy of Allergy and Immunology, „Position Statements: Clinical Ecology“, in: Journal of Allergy and Clinical Immunology 78:2 (1986), S. 269-271; American College of Physicians, „Position Paper: Clinical Ecology“, in: Annals of Internal Medicine 111:2 (1989), S. 168-178; American Medical Association, „Council Report: Clinical Ecology“, in: JAMA 268 (1992), S. 3465-3467; California Medical Association, „Clinical Ecology – A Critical Appraisal“, in: Western Journal of Medicine 144:2 (1986), S. 239-245.

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