Laura Mulvey
Ein Blick aus der Gegenwart in die Vergangenheit:
Eine Re-Vision der feministischen Filmtheorie der 1970er Jahre

übersetzt von Katja Wiederspahn und Susanne Lummerding (gender et alia)
in: Monika Bernold, Andrea B. Braidt, Claudia Preschl (Hg.):
SCREENWISE. Film, Fernsehen, Feminismus,
Marburg: Schüren 2004, S. 17-27 [Auszug]

Im Zentrum dieses Aufsatzes steht die Frage nach der Beziehung zwischen Geschichte und Ideen. Mit dem Blick zurück auf die 1970er möchte ich nicht nur darüber nachdenken, wie sich die feministische Filmtheorie in Großbritannien entwickelt hat, sondern auch über die Frage, warum sie gerade diese ästhetische und ideologische Form angenommen hat. Warum interessierte sich die britische feministische Filmtheorie so für das Hollywoodkino? Warum verlagerte sich dieses Interesse am populären Massenkino später so radikal auf den Avantgardefilm? Wie sah dann letztlich das Schicksal dieser Bewegungen – der feministischen Filmtheorie und des Avantgardefilms – aus? Während es durchaus üblich ist, einen Film und seine Produktion in ihrem historischen Kontext zu analysieren, werden Ideen bzw. Denkmodelle häufig unabhängig von dem intellektuellen und kulturellen Klima gesehen, in dem sie formuliert wurden. Eine Theorie erscheint häufig, um es dramatisch auszudrücken, transzendent, allgemeingültig und für die Ewigkeit gemacht. In Bezug auf den Feminismus der 1970er Jahre mag dies einerseits den stilistischen Erfordernissen der Rhetorik sowie dem politischen Engagement der feministischen Filmtheorie geschuldet sein. Andererseits mag dies auf den Einfluss zurückgehen, den das neue Interesse an Theorie in einem allgemeineren Sinn auf die intellektuelle Vorstellungswelt der 1970er-Generation hatte. Mein Aufsatz „Visuelle Lust und narratives Kino“ erschien 1975 (1) und erlangte aufgrund seiner Zusammenführung von Film und feministisch beeinflusstem Denken, insbesondere psychoanalytischer Theorie, einen exemplarischen Status. An dieser Stelle möchte ich den Hintergrund der Entwicklung feministischer Filmtheorie in Großbritannien in den 1970ern skizzieren und den Vorschlag machen, dass eine historische Kontextualisierung die Bedeutung von Denkmodellen nicht schmälert, sondern sie vielmehr erst zur Geltung bringt.

Erstens war die Auseinandersetzung mit dem Hollywoodkino für die Entwicklung der britischen feministischen Filmtheorie zentral: die Hollywoodästhetik ermöglichte die für diesen Ansatz so charakteristische Anwendung psychoanalytischer Theorie auf das populäre Kino. Diese Bedeutung Hollywoods muss in Zusammenhang mit der vorangegangenen allgemeinen Entwicklung der Filmtheorie in Großbritannien in den 1960ern gesehen werden. Während sich die kritische Infragestellung der Gegenüberstellung von Hoch- und Populärkultur keineswegs auf Großbritannien oder die Filmkritik beschränkte, waren die Diskussionen in Großbritannien eng mit dem „Problem USA“ verbunden. Um diesen Hintergrund skizzieren zu können, gehe ich also historisch einen Schritt zurück, vor die Entwicklung der feministischen Filmtheorie in den 1970ern, zu jenem Kontext, in dem die Filmtheorie in Großbritannien in den 1960ern ihren Anfang nahm.

Zweitens wurden erlebten die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, wie ich in mehreren Aufsätzen in den letzten Jahren dargelegt habe, eine Fülle von Veränderungen in vielen gesellschaftlichen, ökonomischen, technologischen und kulturellen Bereichen. Diese neuen Umstände haben die kulturellen, theoretischen und kritischen Prioritäten verändert, und ein derart radikal veränderter Kontext bliebt klarerweise nicht ohne Auswirkungen auf die Filmtheorie. Im letzten Abschnitt meines Aufsatzes will ich aus dieser neuen Perspektive einen Blick auf das Kino der Vergangenheit werfen. In diesem Sinn haben sich also meine politischen Prioritäten der 1970er – die Analyse von Hollywoodfilmen unter dem Aspekt des Voyeurismus, das Ausstellen der Frau als Spektakel und zentraler Signifikant innerhalb eines ästhetischen und ideologischen Systems – verändert und auf andere politische und ästhetische Fragen verlagert. […]

(1) Laura Mulvey: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Screen 16 (1975), S. 6-18; dt. in: Gislind Nabakowski, Helke Sander, Peter Gorsen (Hg.): Frauen in der Kunst, Bd. 1, S. 30-46, übers. von Karola Gramann Frankfurt am Main 1980.

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