Nancy Fraser
Lageverzeichnis der feministischen Imagination:
Von Umverteilung über Anerkennung zur Repräsentation

übersetzt von Dagmar Fink und Jutta Braidt (gender et alia)
in: Dominique Grisard, Jana Häberlein, Anelis Kaiser und Sibylle Saxer (Hg_innen):
Gender in Motion. Die Konstruktion von Geschlecht in Raum und Erzählung.
Frankfurt/Main: Campus, 2007, S. 259-280 [Auszug]

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3. Von Umverteilung zu Anerkennung: Die unglückliche Verbindung von Kulturalismus und Neoliberalismus

Hier tritt nun die Politik der Anerkennung auf den Plan. Während der Nachkriegs-Feminismus in der ersten Phase das sozialistische Imaginäre als ein »vergeschlechtlichtes« zu erzeugen suchte, lag in der zweiten Phase die Betonung auf der Notwendigkeit, »Differenzen anzuerkennen«. Imfin de siècle wurde »Anerkennung« folglich zur bestimmenden Grammatik für das Aufstellen feministischer Forderungen. Als ehrwürdige Kategorie hegelianischer Philosophie, die im Rahmen politischer Theorie wieder belebt wurde, fing diese Vorstellung den spezifischen Charakter postsozialistischer Kämpfe ein, welche häufig die Form von Identitätspolitik annahmen und eher darauf abzielten, Differenzen zu schätzen als Gleichheit zu fördern. Egal, ob es um Gewalt gegen Frauen oder um geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der politischen Repräsentation ging, zunehmend griffen Feministinnen auf die Grammatik der Anerkennung zurück, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Nicht in der Lage, gegen die Ungerechtigkeiten der politischen Ökonomie anzukommen, zogen sie es vor, sich auf die Schäden zu konzentrieren, die androzentrische Strukturen in kulturellen Werten oder Statushierarchien verursacht hatten. Dies führte zu einer grundlegenden Verschiebung des feministischen Imaginären: Während die vorangegangene Generation eine erweiterte Idealvorstellung sozialer Gleichheit verfolgte, investierte diese das Gros ihrer Energien in kulturelle Veränderungen.[1]

Damit keine Missverständnisse entstehen: Das Projekt der Umgestaltung von Kultur war integraler Bestandteil jeder Phase des Feminismus, einschließlich der Phase der neuen sozialen Bewegungen. Die identitätspolitische Phase unterschied sich jedoch insofern als sich das kulturelle Projekt relativ verselbstständigte – es sich vom Projekt politisch-ökonomischer Veränderungen und der Verteilungsgerechtigkeit entkoppelte.

Wie nicht weiter erstaunlich, waren die Effekte der zweiten Phase gemischt. Einerseits richtete diese Neuorientierung an Anerkennung die Aufmerksamkeit auf Formen männlicher Dominanz, die in der Statusordnung der kapitalistischen Gesellschaft wurzeln. Wäre dies mit dem früheren Fokus auf sozio-ökonomische Ungleichheiten kombiniert worden, hätte dies unser Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit vertieft. Andererseits nahm die Figur des Kampfes um Anerkennung die feministische Vorstellungskraft gründlich gefangen, sodass sie das sozialistische Imaginäre eher verschob als vertiefte. Der Trend ging dahin, soziale Kämpfe kulturellen Kämpfen unterzuordnen und die Umverteilungspolitik der Anerkennungspolitik. Das war sicher nicht die eigentliche Absicht. Die BefürworterInnen der kulturellen Wende (cultural turn) gingen vielmehr davon aus, dass eine feministische Politik der Identität und Differenz Synergien mit den Kämpfen um soziale Gleichheit eingeht. Diese Annahme fiel jedoch dem allgemeinen Zeitgeist (im Original deutsch; Anm. d. Ü.) zum Opfer. Im Kontext des fin de siècle fügte sich die Hinwendung zur Anerkennung nur allzu gut in einen hegemonialen Neoliberalismus, der nichts mehr wollte, als jegliche Erinnerung an sozialen Egalitarismus zu unterdrücken. Dies hatte eine tragische historische Ironie zum Ergebnis. Anstatt zu einem breiteren, reicheren Paradigma zu kommen, das sowohl Umverteilung als auch Anerkennung umfassen könnte, haben wir effektiv ein verkürztes Paradigma gegen ein anderes eingetauscht: einen verkürzten Ökonomismus gegen einen verkürzten Kulturalismus.

Der Zeitpunkt hätte nicht schlechter gewählt sein können. Denn die Verschiebung zu einer kulturalisierten Politik der Anerkennung fand genau in dem Augenblick statt, in dem der Neoliberalismus sein spektakuläres Comeback inszenierte. Während dieser Periode war die akademische, feministische Theorie größtenteils in Debatten um »Differenz« vertieft. Diese Dispute ließen »EssentialistInnen« gegen »Anti-EssentialistInnen« antreten und waren insofern von großem Nutzen, als sie verborgene, ausschließende Prämissen früherer Theorien offen legten. Darüber hinaus haben sie die Geschlechterforschung für vielen neue Stimmen geöffnet. Selbst in ihrer Bestform blieben sie jedoch tendenziell auf dem Terrain der Anerkennung stecken, das Unterordnung als Problem von Kultur und losgelöst von politischer Ökonomie auslegte. Dies hatte den Effekt, uns wehrlos gegenüber einem Fundamentalismus des freien Marktes zurückzulassen, der in der Zwischenzeit hegemonial geworden war. Von der Politik der Anerkennung völlig eingenommen, haben wir die feministische Theorie unabsichtlich in kulturalistische Bahnen umgelenkt – in genau jenem Augenblick, in dem die Umstände eine verdoppelte Aufmerksamkeit für die Umverteilungspolitik erfordert hätten.[2] Auf diesen Punkt komme ich gleich zurück.

 

[1] Nancy Fraser, Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats; aus d. US-Amerikanischen von Karin Wördemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001.

[2] Nancy Fraser, »Multikulturalismus, Antiessentialismus und radikale Demokratie. Eine Genealogie der gegenwärtigen Auswegslosigkeit in der feministischen Theorie«; aus d. US-Amerikanischen von Karin Wördemann. Die halbierte Gerechtigkeit, S. 251-273.

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